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Gaia-X Use Cases - Ein Interview mit Jann Wendt

Gaia-X Use Cases - Ein Interview mit Jann Wendt

Über 70 Gaia-X-Pilotprojekte entwickeln zurzeit die technischen Anforderungen für Europas künftiges Cloud-Ökosystem. Das Konsortium für “Smart Maritime Sensor Data Space X“, kurz Marispace-X, erkundet den wohl unzugänglichsten aller Datenräume: unsere Ozeane. Im Interview schildert Unternehmer und Initiator Jann Wendt (35), warum das Meer Daten nur unter hohen Kosten preisgibt und warum es sich trotzdem lohnt, sie zu heben, und vor allem: sie miteinander zu teilen.

Herr Wendt, warum wollen Sie das Meer digitalisieren?

In der maritimen Domäne steckt ein enormes Potential zur Digitalisierung: für datenbasierte Geschäftsmodelle, neue Sensortechnologien für die Meeresforschung, effizientere Energiegewinnung auf hoher See oder Ansätze, um die Ozeane als CO2-Speicher zu nutzen. Für solche Vorhaben spielen Daten eine Schlüsselrolle. Und der Druck auf Seiten der Daten nimmt zu: autonome Messsysteme, eine Vielzahl an maritimen Infrastrukturprojekten und neuerdings auch kostengünstigere Satellitenverbindungen führen zu zahlreichen datengetriebenen Herausforderungen. Hinzu kommt, dass in der maritimen Domäne Cloud-Technologien bisher kaum bis gar keinen Einzug gehalten haben. Auch ist unsere moderne Informationstechnologie eher für landseitige Anwendungen gemacht. Das macht es uns aktuell so schwierig, aus den großen Mengen an maritimen Daten zielgerichtet Informationen zu gewinnen, diese effizient zu managen und zu teilen.

Was macht den Umgang mit maritimen Daten so kompliziert?

Aufgrund der rauen Umweltbedingungen auf See und unter Wasser sind die technischen Abläufe hochkomplex. Die Datengewinnung auf See ist daher kostspielig und aufwendig. Die meisten Akteure horten darum ihre Datenbestände in abgeschirmten Silos. Fachübergreifender Austausch ist die Ausnahme. Für Anwender aus diesem Umfeld hat unsere Firma north.io gemeinsam mit TrueOcean webbasierte und skalierbare Cloud-Anwendungen für Big-Data-Analysen entwickelt. Aber die maritime Domäne braucht noch mehr als eine Plattform und IT-Lösungen: Auf See sind viele verschiedene Akteure aktiv und viele Anrainer betroffen. Was fehlt, ist ein digitales Ökosystem, das den souveränen und sicheren Umgang mit Daten regelt!

Was ist ihr Ziel?

Unser Ziel ist ein intelligenter Big-Data-Hub für die Meere und ihre Anrainer. Wir wollen maritime Daten für Dritte nutzbar machen, sie teils schon vor Ort, also unter Wasser und auf See, verarbeiten und sicher mit Daten aus anderen Quellen verknüpfen. Dazu erarbeiten und definieren wir die besonderen digitalen Anforderungen der maritimen Domäne und bringen sie in die Ausgestaltung eines europäischen Cloud-Ökosystems ein. Auf dieser Basis implementieren wir dann die Federation Services von Gaia-X für einen sicheren, transparenten und souveränen Datenaustausch.

Mit welchen Themen befassen sich ihre Projekte bei Marispace-X?

Es gibt vier Pilotprojekte, die unsere Partner vorantreiben und bei denen sie ihre jeweiligen Stärken einbringen. Wir befassen uns mit dem Datenaustausch in Infrastrukturprojekten wie Offshore-Windparks, der datenbasierten und KI-gestützten Suche nach Altmunition in Nord- und Ostsee, dem optimierten Anbau von Seegraswiesen als natürlichem CO2-Speicher bis hin zum Internet-of-Underwater-Things (IoUT).

Wer steht hinter dem Marispace-X-Konsortium?

Zu Marispace-X gehören aktuell neun Konsortialpartner aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung: der Cloud-Provider IONOS SE, die beiden Universitäten Kiel und Rostock, das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD, das GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, der Open-Source-Distributor Stackable, das Kieler Beratungsbüro für Meeres- und Unterwassertechnik MacArtney Germany sowie die von mir gegründeten Unternehmen north.io und TrueOcean. Dazu kommen noch zahlreiche Partner aus Industrie und Wissenschaft wie zum Beispiel Ørsted, Siemens Gamesa, thyssenkrupp und die Hamburg Port Authority. Geleitet wird das Projekt von IONOS und koordiniert von north.io. Und unser Projekt ist weiterhin offen für alle Teilnehmer, die einen Beitrag zu Marispace-X leisten möchten.

Wie wurden Sie ein Teil von Gaia-X?

Der Hinweis kam von unserem Provider: Datenintensive Applikationen wie unsere Big-Data-Lösungen brauchen eine leistungsfähige Cloud-Infrastruktur, die wir bei IONOS gefunden haben. Bei Überlegungen, wie wir die digitale Kooperation zwischen maritimen Anrainern verbessern können, machte uns IONOS auf Gaia-X aufmerksam und auf die laufenden Förderaufrufe. Da sahen wir die Chance, und dann kam eines zum anderen.

Wie ging es dann weiter?

Erstmal musste ich feststellen, dass Ozeane gar nicht im Fokus von Gaia-X stehen. Mangels Alternativen sortierten wir unsere Projekte im Bereich Geoinformationen ein. Ich habe dann mein Netzwerk aktiviert, Partner angesprochen und ein Konsortium geschmiedet. Die Arbeit hat sich gelohnt: Zum Jahreswechsel konnten wir gleich mehrere Use Cases für Gaia-X an den Start bringen. Das Bundeswirtschaftsministerium fördert unsere Arbeit mit 9,7 Millionen Euro für eine Laufzeit von drei Jahren.

Sie sprachen vom Internet für Unterwasserobjekte. Welches Projekt treiben Sie hierzu voran?

Es geht um Sensoren im Meer. Daran forscht das Fraunhofer IGD als Teil des Ocean Technology Campus in Rostock, den das Bundesforschungsministerium mit 60 Millionen Euro fördert. Das Fraunhofer IGD baut dazu gerade ein eigenes Unterwasser-Testzentrum in der Ostsee auf. Dort erproben sie neue Methoden zur Datenübertragung unter Wasser. Digitale Kommunikation ist unter Wasser extrem eingeschränkt und technisch anspruchsvoll, weil sich unter diesen Bedingungen nur wenige Zeichen pro Sekunde übertragen lassen.

Wie lässt sich denn überhaupt mit umfangreichen maritimen Daten umgehen?

Ein Ansatz ist Dateneffizienz: Auf See ist es sinnvoller, Rohdaten aus Sensoren via Edge Computing gleich an Ort und Stelle zu verarbeiten. Übertragen und ausgetauscht werden später nur noch zusammengefasste Ergebnisse. Ist unter Wasser überhaupt keine Anbindung verfügbar, können die Sensoren ihre Daten über Bojen an der Wasseroberfläche ans Festland funken.

Welche Fragen löst Gaia-X bei solchen Anwendungen?

Für maritime Szenarien fehlen Standards, mit denen sich Daten sicher, transparent und souverän verarbeiten und mit Partnern austauschen lassen. Genau diese technisch-organisatorischen Rahmen schafft Gaia-X. Ebenso suchen wir Lösungen, um digitale Identitäten vertrauensvoll zu managen. Das ist besonders schwierig, wenn Sensoren unter dem Meeresspiegel keinen oder nur sporadischen Netzzugang haben: Hier müssen die Betreiber sicher sein, dass nur Befugte Zugriff erhalten.

Warum kann das nur Gaia-X im Internet-of-Underwater-Things lösen?

Weil sich in der maritimen Domäne bislang noch niemand den Kopf zerbrochen hat über Fragen von Datensouveränität, Vertrauen und Identitäten oder etwa durchgängiger Nachverfolgbarkeit von Datenströmen. Die Lösung bisher war: alles in Silos zu packen und mit proprietären Systemen zu verarbeiten. Mit Gaia-X wollen wir solche Dateninseln auflösen und die kooperative Nutzung von Daten erleichtern.

Auf Big Data setzen Sie auch beim Thema Dekarbonisierung.

Bei diesem Projekt nutzen wir digitale Daten für die Erforschung von Seegraswiesen. Diese Unterwasserpflanze ist ein idealer CO2-Speicher. Dort, wo Seegras wächst, verändern sich Lichtreflektion und Ausbreitung des Schalls unter Wasser. Über solche Messdaten ermitteln wir, die Speicherkapazitäten von Kohlendioxid durch Seegras in einer Region. Außerdem suchen unsere Partner nach Möglichkeiten, um Seegras gezielt zu kultivieren. Dazu verschneiden wir Satelliten- und hydro-akustische Unterwasserdaten aus unterschiedlichen Quellen und nutzen künstliche Intelligenz für die Vorhersage. Und am Ende schafft das auch wirtschaftliche Anreize für die Vermarktung von Klimazertifikaten.

Welche anderen Pilotprojekte verfolgt Marispace-X?

Im Themenbereich Offshore-Wind ist die Datensouveränität und insbesondere der effiziente Datenaustausch eine Achillesferse. Die Investitionen in Infrastruktur liegen im Milliardenbereich und trotzdem schicken sich bis heute die Beteiligten teilweise noch Festplatten per Post von maritimen Messdaten hin und her. Außerdem herrscht eine stark ausgeprägtes Silo-Denken in Bezug auf die Daten. Das liegt nicht nur an fehlenden Netzen, sondern auch an den Kosten. Solche Daten einzusammeln, ist wahnsinnig teuer. Der Unterhalt für ein Schiff, das die Daten auf See einliest und zurück an Land bringt, kostet 150.000 bis 300.000 Euro: und zwar pro Tag! Echtzeitverarbeitung in Knoten sozusagen. Bei schlechtem Wetter fällt der Datentransfer aus oder das Schiff fährt auch mal umsonst hinaus. Das macht diese Daten besonders wertvoll. Und weil sie so kostspielig sind, legen ihre Besitzer sie gern gut verschlossen im Datentresor ab.

Wie kommen Gaia-X und die Federation Services ins Spiel?

Für den Austausch solcher Daten braucht es nicht nur digitale Plattformen in der Cloud. Ebenso wichtig ist das Vertrauen zwischen den Akteuren. Die derzeit in der Entwicklung befindlichen Federation Services für Gaia-X liefern uns die Technologie, um Daten in der maritimen Domäne souverän und sicher auszutauschen. Mit den Daten ihrer Zulieferer erschaffen etwa Windradbetreiber im trockenen Büro an Land einen digitalen Zwilling ihrer Anlagen, die draußen auf See stehen. Am Modell können sie ihre Windräder ganzheitlich und in Echtzeit überwachen. Aber das ist nur der Anfang. Der Datenaustausch über Gaia-X bietet in Zukunft noch ganz neue Möglichkeiten.

Welche neuen Geschäftsmodelle entstehen durch Verknüpfung von Daten im maritimen Raum?

Off-Shore-Windparks sind ein interessantes Beispiel, weil wir dort Daten über und unter der Wasseroberfläche sammeln. Neben Bauteildaten vor allem Umweltdaten aus dem Meer und der Atmosphäre. Bei Windparks lassen sich meteorologische und maritime Daten miteinander verbinden, indem man Temperaturen, Strömungen, Windstärken und -richtungen aufeinander bezieht. Mittlerweile erkennen die Betreiber, dass ihre Daten auch für Dritte einen Wert darstellen und dass es einen Markt dafür gibt. Ein anderes Beispiel sind Reedereien: Sie erweitern die Palette ihrer Sensoren und sammeln mehr Daten, als Kunden aktuell nachfragen. Das ermöglicht Analysen aus neuen Blickwinkeln und eröffnet zusätzliche Absatzchancen jenseits des Kerngeschäfts.

Wie findet sich ein Preis für solche Daten?

Das ist ein spannendes Thema. Ob Grundlagenforschung oder Geschäftsmodell – letztlich bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis, das gilt auch für Daten. Klar ist, Meeresdaten sind per se teurer als andere, da es aufwändig ist, an sie heranzukommen. Aber durch Kombination unterschiedlicher Datenquellen und durch den Einsatz von Technologien wie Künstlicher Intelligenz können wir heute Probleme lösen, die früher schlicht jenseits unserer Fähigkeiten lagen. Das zeigt auch unser Use Case eines maritimen Katasters für Altmunition.

Das ist Ihr Projekt AmuCad.org, das sie mit north.io vorantreiben?

Ja, genau. Unsere Weltmeere sind leider auch Endlager für Munition, vor allem aus den beiden Weltkriegen. Allein in der deutschen Nord- und Ostsee verrotten 1,6 Millionen Tonnen Bomben, Granaten und Patronen, ja, sogar Giftgasmunition. Das entspricht einem voll beladenen Güterzug mit einer Länge von 2.500 Kilometern. Nach Jahrzehnten im aggressiven Salzwasser lösen sich die Geschosshüllen auf, vergiften das Meer und machen eine Bergung immer riskanter. Aber niemand weiß heute genau, wo diese Altlasten liegen. Darum arbeiten wir bei north.io an einem Kataster, das Altmunition im Meer weltweit dokumentiert.

Mit welchen Daten arbeiten sie da?

Das ist ganz unterschiedlich. Hinweise finden sich zum Beispiel in historischen Dokumenten wie Tabellen oder handschriftlichen Notizbüchern. Allein im Freiburger Militärarchiv lagern fünfzig Regalkilometer an Akten. Das kann niemand alles lesen. Stattdessen haben wir KI-Software programmiert, die die Daten digitalisiert und auswertet. Diese Informationen verschneiden wir mit Daten von Wasserproben, zu Fischbeständen, zur Beschaffenheit des Meeresbodens und über lokale Meeresströmungen. Aus dieser Basis errechnen dann unsere Analyseprogramme die wahrscheinlichen Lagerstätten der Giftstoffe. Das liefert den Stakeholdern die nötigen Anhaltspunkte, um die Kampfmittel in ihrem Zuständigkeitsbereich zu bergen.

Wie zugänglich sind die Daten bei AmuCad.org?

Sie müssen wissen: Es geht nicht nur um Altlasten, sondern um waffenfähige Stoffe, also hochgradig sicherheitsrelevante Informationen. Neben der Recherche in Militärarchiven beziehen wir Daten von Streitkräften der Anrainerstaaten mit ein, ebenso von öffentlichen Verwaltungen, NGOs, Forschungseinrichtungen und Unternehmen, die Kampfmittel professionell bergen und entsorgen. Solche Daten dürfen nicht in falsche Hände gelangen oder einfach an den Meistbietenden verkauft werden. Alle Parteien legen extremen Wert auf Datensicherheit und Geheimnisschutz. Mit Gaia-X behalten sie die volle Kontrolle, von wem und wie ihre Daten verwendet werden. Das schafft das nötige Vertrauen zur Kooperation und die Voraussetzung, um gesetzliche Vorgaben und interne Sicherheitsvorschriften beteiligter Organisationen zu erfüllen.

Wie übertragbar ist das auf andere Länder?

Maximal übertragbar! Allein vor Großbritanniens Küsten liegen zwei Millionen Tonnen Altmunition. Egal, ob Norwegen, Dänemark, Japan oder Australien – Probleme wie diese haben alle Küstenländer. So haben sich bereits viele internationale Player mit dem Konsortium von Marispace-X assoziiert.

Herr Wendt, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Andreas Weiss & Thomas Sprenger

 

 

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